Stellungnahme gegen Antisemitismus in feministischen Kontexten

Antisemitismus hat eine lange kontinuierliche Geschichte. Sei es ein Virus, der Kapitalismus oder das Patriarchat: am Ende sind es Juden*Jüdinnen, die direkt oder vermittelt für gesellschaftliche Schieflagen und Krisen verantwortlich gemacht werden. So haben sich auch durch die Corona-Krise vermehrt antisemitische Erzählungen weiter verbreitet. Umso mehr gilt es jetzt, sich entschieden und deutlich gegen jeden Antisemitismus zu positionieren.

Aus feministischer Perspektive scheint dies noch einmal besonders wichtig, da Juden*Jüdinnen in den aktuellen intersektional-feministischen Perspektiven oftmals keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im Gegenteil werden auch hier jüdische Menschen, häufig vermittelt über den Staat Israel, zum Feindbild stilisiert. Dahinter steckt, nach alter antisemitischer Manier, der Wunsch abstrakte, komplizierte Problemlagen konkret und einfach zu machen. So wird beispielsweise in der feministischen Streikbewegung, die für die Befreiung aller Frauen, Lesben, Inter, Nonbinary, Trans- und Agender-Personen (FLINTA*) eintritt, im Selbstverständnis der US-amerikanischen Streikbewegung auf einmal die Befreiung Palästinas „das schlagende Herz dieser neuen feministischen Bewegung“ [1]. Bei näherer Betrachtung entlarvt sich dieses explizite Hervorheben der Befreiung palästinensischer FLINTA*s als zentrales Moment im internationalen feministischen Kampf als Vorwand den Staat Israel als alleinigen Verantwortlichen und unnötigen Aggressor heraus zu stellen und platziert somit problematische antisemitische Positionen in die Mitte feministischer Argumentation.

Diese Systematik zeigt sich auch in der bundesweiten Streikvernetzung in Deutschland. Gleich am ersten bundesweiten Vernetzungstreffen entspann sich ein Konflikt, der sich bis heute fortsetzt und zu dem der Jenaer Koordinierungskreis im Folgenden Stellung beziehen möchte[2]. Konkret ging es um die Einladung Selma James zum bundesweiten Treffen in Göttingen 2018. James, die auf Einladung des Berliner Bündnisses als Rednerin für das internationalistische Panel zum Treffen kam, ist ein Gründungsmitglied des International Jewish Anti-Zionist Network und Verfechterin der antiisraelischen Boykottkampagne BDS. In Reaktion auf diese Einladung wurde von verschiedenen Städte-Bündnissen eine Kritik an antisemitischen Positionen im Frauen*streik formuliert, andere traten aus der bundesweiten Vernetzung aus.

In Jena wurde es lange versäumt Stellung zu beziehen. Erst als Reaktion auf Kritik aus dem eigenen Bündnis wurde erneut eine Auseinandersetzung angestoßen. Dieses Statement soll ein Aufschlag sein für eine langfristige Auseinandersetzung mit Antisemitismus in unserer Organisierung.

Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, er beschränkt sich nicht auf die extreme Rechte, sondern ist latent in allen Bevölkerungsschichten und politischen Lagern vorhanden. Kommt es zu globalen oder nationalen Krisen oder verschiebt sich der Diskurs, bricht er sich offen Bahn. Deshalb ist es wichtig und nötig, Antisemitismus in seinen unterschiedlichsten Erscheinungsformen zu verurteilen – auch in linken und feministischen Bündnissen.

Unser Verständnis von Antisemitismus orientiert sich an der internationalen Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Demnach ist Antisemitismus „eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. […] Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten“ [3]. Antisemitismus ist so alt wie das Judentum, wandelten sich jedoch über die Jahre hinweg. Auch wenn selbst offen antisemitische Äußerungen in den letzten Jahren wieder zunehmen, bedienen sich Menschen außerhalb rechtsextremer Milieus häufig einer Umwegskommunikation, wenn sie antisemitische Aussagen treffen: So kann eine direkte Verbindung zum Nationalsozialismus geleugnet und eine gesellschaftliche Sanktionierung vermieden werden. Der moderne Antisemitismus bedient sich dabei tradierter, historisch gewachsener antisemitischer Codes und Chiffren. Juden*Jüdinnen müssen nicht mehr konkret benannt werden. Prominent war dies im Jahr 2020 an der Verbreitung antisemitischer Verschwörungsideologien zum Corona-Virus zu verfolgen [4].

Moderner Antisemitismus äußert sich auch in Formen der Kritik am Staat Israel und dessen Politik. Hilfestellung kann hier der von Natan Sharansky entworfene „Drei D-Test“ bieten. Die drei D stehen für Dämonisierung, Delegitimation und Doppelstandards [5]. Wird Israel in der Kritik als Inkarnation des Bösen dargestellt und ihm die alleinige Schuld am Nah-Ost-Konflikt zugeschrieben (Dämonisierung)? Wird Israel das Existenz- und Selbstbestimmungsrecht abgesprochen (Delegitimation), oder werden an Israel andere Maßstäbe angelegt als an andere demokratische Staaten (Doppelstandards)? – Dann kann von israelfeindlichem Antisemitismus gesprochen werden. Erweitert werden kann dieser Katalog durch die Kategorie der Derealisierung [6]. Diese liegt vor, wenn Israel und dessen Politik stark verzerrt dargestellt werden. Zusätzlich zur Kategorie der Derealisierung sollte geprüft werden, ob in der Kritik Juden*Jüdinnen für das Regierungshandeln Israels verantwortlich gemacht werden und ob Israel und/oder die dort lebenden Menschen mit antisemitischen Codes und Chiffren belegt werden („Brunnenvergifter“, „Wucherer“, „Verschwörer“).

BDS steht für Boykott, Divestment, Sanctions gegen Israel. Es handelt sich um keine feste Organisation, sondern um einen losen, transnationalen Zusammenschluss von Akteur*innen mit einer gemeinsamen Agenda: Durch den Boykott von israelischen Produkten, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen soll Druck auf Israel ausgeübt werden, mit dem Ziel, dass die Regierung die „Besatzung und Kolonialisierung allen arabischen Landes“ [7] beendet und die palästinensischen Flüchtlinge auf israelisches Staatsgebiet zurückkehren lässt. Die sich als Bewegung verstehende Kampagne wurde 2005 nach eigenen Angaben mit 171 palästinensischen unterstützenden Gruppen offiziell ins Leben gerufen, die zum Teil in Verbindung mit der Terrorganisation Hamas und der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) stehen. Anhand der oben genannten 4 Kriterien schließen wir uns den zahlreichen Stimmen an, die die Kampagne und ihre Ziele als antisemitisch einstufen [8].

Wir distanzieren uns als Koordinierungskreis des Frauen*streikbündnis Jena hiermit nachträglich von der Einladung Selma James zum bundesweiten Vernetzungstreffen und von jeglicher Zusammenarbeit mit der BDS Kampagne. Wir möchten dabei auch eigene Versäumnisse einräumen: so hätte es sicher Möglichkeiten gegeben, die Einladung bereits im Vorfeld zu kritisieren oder im Nachhinein unsere Position dazu zeitlich deutlich näher in die Debatte einzubringen.

Bei der Diskussion des Statements wurde angemerkt, dass die Kategorien des „Drei D-Tests“ nicht immer eine eineindeutige Interpretation zulassen; Nicht jede Kritik an israelischer Politik ist per se antisemitisch, es gilt zu differenzieren. Die Kategorien des 3-D Tests können dabei eine Hilfestellung sein, sie ersetzen jedoch nicht das Infragestellen der eigenen Position und Perspektive und die daraus folgenden Konsequenzen.

Praktische Konsequenzen für unsere politische Arbeit

Als Teil einer emanzipatorischen Bewegung verstehen wir es als unsere Verantwortung uns mit gesellschaftlichen Diskriminierungsachsen auseinander zu setzen, sie zu enttarnen und zu bekämpfen. Dem Hass auf Juden*Jüdinnen darf kein Nährboden geliefert werden.

Die durch die Debatten in der bundesweiten Vernetzung angeregte Auseinandersetzung mit Antisemitismus in feministischen Kontexten verstehen wir als Anstoß für eine langfristige Auseinandersetzung mit dem Thema auch innerhalb unserer Organisierung. Dieses Statement soll nicht nur ein Lippenbekenntnis sein, sondern stellt einen Auftrag an uns selbst dar sich aktiv für eine antisemitismuskritischere politischen Organisierung einzusetzen. Uns ist bei der Ausarbeitung dieses Statements durchaus schon begegnet, wie schwerfällig diese internen Auseinandersetzungen laufen können, aber wir halten es für unerlässlich, sie langfristig am Laufen zu halten. Wir wollen weitere Bildungs- und Austauschangebote für uns als Ortsgruppe schaffen, uns tiefgehender mit Querverweisen beschäftigen (z.B. Verhältnis Rassismus und Antisemitismus, Antifeminismus und Antisemitismus, …) und so unseren Blick auf das Thema schärfen.

Als Konsequenzen für die bundesweite Vernetzung leiten wir Folgendes ab: Wir fordern, dass kein*e weitere*r BDS-Unterstützer*in oder sich anderweitig öffentlich positionierende Antisemit*in als Referent*in zu den bundesweiten Treffen eingeladen wird. Im Falle einer Einladung sehen wir uns in der Pflicht dies zu kritisieren und Konsequenzen für uns zu ziehen. Konkret kann das heißen: Als Ortsgruppe werden wir solch eine Einladung (gegebenenfalls öffentlich) problematisieren, eine Nicht-Teilnahme oder die Schaffung von Gegenangeboten abwägen. In öffentlichen Auftritten, wie z.B gemeinsamen Social Media-Auftritten oder Statements, sprechen wir uns gegen das explizite Herausgreifen des palästinensischen Kampfes als feministischen Kampf aus, da damit antisemitische Narrative unterhalten werden. Auch da behalten wir uns vor gegebenenfalls zu reagieren. Die Aushandlung zum konkreten Umgang in einer spezifischen Situation muss im Koordinierungskreis mit Zeit besprochen werden. Wir halten eine Vernetzung mit anderen antisemitismuskritischen Ortsgruppen für sinnvoll, um unsere Handlungsfähigkeit in dem Feld zu erhöhen und sprechen uns deutlich für die Wichtigkeit der (geplanten) bundesweiten AG aus, die sich mit dem Konfliktthema beschäftigen wollte.

Wir sehen die Notwendigkeit für eine schlagkräftige und vereinte internationale feministische Bewegung, die gegen die regressiven Elemente unserer Zeit eine emanzipatorische Vision entgegen bringt – dabei muss klar sein, dass Antisemitismus in jeglicher Form niemals ein Teil emanzipatorischer Praxis sein kann.

Gegen jeden Antisemitismus!

Der Koordinierungskreis des Frauen*streik Jena

 


[1] International Womenstrike US – Our Platform (2017), https://www.facebook.com/womenstrikeus/posts/1921049988117241 (abgerufen am 03.06.2021)

[2] (unvollständige) Übersicht über die Stellungnahmen verschiedener Ortsbündnisse:
1) Veröffentlichung interne Auseinandersetzung im Berliner Bündnis (10.11.18): https://www.facebook.com/gruppemelange/posts/2326425347386638
2) offener Brief von Teile aus Hamburg (05.02.19): https://www.facebook.com/FStreikHamburg/posts/566883767117209
3) Statement Osnabrück (13.02.19): https://www.facebook.com/FrauenstreikOS/posts/302912643754421
4) Offener Brief Bielefeld (15.02.19): https://frauenqueerstreikbielefeld.noblogs.org/post/2019/02/17/stellungnahme-des-buendnis-frauen-und-queer-streik-bielefeld/)
5) Statement Dresden (15.02.19)
6) Statement Göttingen (22.02.19): https://femfrauengruppe.noblogs.org/post/2019/02/22/offener-brief-zum-bundesweiten-vernetzungstreffen-des-f-streiks-in-berlin-vom-15-17-2-2019/
7) Antwort des Berliner Bündnisses auf Göttingen (01.03.19)
8) offener Brief von Teilen des Frankfurter Bündnis (06.03.19)
9) Statement zum Austritt Bielefelds aus der bundesweiten Vernetzung (06.12.19)

[3] https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus (abgerufen am 03.06.2021)

[4] https://taz.de/Antisemitismus-unter-Coronaleugnern/!5734818/ (abgerufen 03.06.2021)

[5] https://www.antisemitismusbeauftragter.de/Webs/BAS/DE/bekaempfung-antisemitismus/was-ist-antisemitismus/3d-regel/3d-regel-node.html (abgerufen am 03.06.2021)

[6] nach Schwarz-Friesel und Reinharz

[7] BDS Gründungsaufruf: https://bdsmovement.net/what-is-bds (abgerufen am 03.06.2021)

[8] 1) Die Forderungen des BDS zielen auf die Zerstörung des jüdischen Staates ab: Eine Forderung des BDS ist das Rückkehrrecht der Palästinenser*innen, die während des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1947-49 aus ihrer Heimat flohen. Die einmalige Besonderheit des palästinensischen Geflüchtetenstatus ist, die Weitervererbung auf die nächste Generation. Daraus folgt, dass inzwischen 5 Mio Menschen Anspruch auf diesen Status erheben können. Israel hat 8 Millionen Einwohner:innen. Es gäbe faktisch keinen jüdischen Staatscharakter mehr. 2) Die Kritik vom BDS misst Israel an Doppelstandards. Doppelstandards können im Bezug auf andere Länder und in Bezug auf die Rolle innerhalb des Nahostkonflikts gesehen werden. Die BDS-Anhänger*innen legen an Israel andere Maßstäbe an als sonstige Staaten: Israel als alleinigen Aggressor, der den Weltfrieden bedroht. Tatsächlich gibt es derzeit weltweit mehr als 20 bewaffnete Konflikte mit Menschenrechtsbrüchen und hohen zivilen Opferzahlen. Israel ist der einzige Staat, gegen den solch eine Kampagne existiert. Im Bezug auf die Rolle innerhalb des Nahostkonflikts: Für das Scheitern der Friedensgespräche im Nahostkonflikt ist nach dem BDS allein Israel verantwortlich. Die Rolle der palästinensischen Terrororganisation Hamas wird völlig ausgeblendet.. BDS kritisiert ausschließlich die Situation palästinensischer Geflüchteter in Israel (Staatenlosigkeit als Druckmittel, menschenunwürdige Lager, Diskriminierungen, aktiver Beitrag der Nachbarländer den Konflikt nicht zu entspannen). 3) BDS dämonisiert Israel. Es werden Vergleiche gezogen, in dem Israel entweder mit dem südafrikanischen Apartheidstaat oder mit dem nationalsozialistischen Regime gleichgesetzt werden. Der Vorwurf lautet, die Opfer der Shoah und ihre Nachkommen würden die nationalsozialistische Vernichtungspolitik fortführen. Dieser Vergleich relativiert und verharmlost die Verbrechen der deutschen Nationalsozialist*innen und ist geschichtsrevisionistisch. Gleichzeitig wird so der Boykott isrealischer Produkte, beispielsweise gegen die israelische Soda-Stream Marke, legitimiert. 4) Die BDS-Kampagne macht alle Jüdinnen und Juden für die israelische Politik verantwortlich. Es ist dabei weder von Relevanz ob sie mit der israelischen Politik einverstanden sind, noch welcher Staatsangehörigkeit sie zugehörig sind. So wurde beispielsweise der jüdisch-amerikanische Musiker Matisyahu auf einem Reggae-Festival 2015 in Spanien auf Druck einer örtlichen BDS-Gruppe ausgeladen. Die BDS-Gruppe drohte das Festival ansonsten zu boykottieren. Es wird eine gemeinsame Verantwortung aller Jüdinnen und Juden für Israel suggeriert.


 Das Statement als pdf

Sammlung der bisherigen Stellungnahmen in der bundesweiten Auseinandersetzung
(Wir haben versucht die Debatte so vollständig wie möglich zu rekonstruieren, es kann aber sein, dass uns bei der Recherche einzelne Stellungnahmen von Ortsgruppen durch die Lappen gegangen sind – also kein Anspruch auf Vollständigkeit!)