Awarenesskonzept 8M 2021

Auf den Kundgebungen des Frauen*streikbündnis Jena kam auch dieses Jahr wieder ein Awarenesskonzept zur Anwendung. Wir wollen es hier veröffentlichen und alle ermuntern auf ihren Veranstaltungen eine Awareness-Struktur zu etablieren. Wir freuen uns, wenn unser Konzept eure Planung erleichtern kann!

 Hier geht’s zum ausführlichen Awareness-Konzept (pdf)

Dieses Konzept ist eine Zusammenstellung der Awareness-Konzepte des „A-Teams“ in Freiburg, des Aktionsbündnis 13.Februar zum 15.02.2020, von #Wannwennnichtjetzt Saalfeld 2019, des autonomen feministisches Kollektivs der Uni Hannover und des „Solidarity for all“-Camps 2016 in Bamberg  ergänzt durch eigene Inhalte.

In eigener Sache: Als feministische Organisierung war es uns wichtig ein Awarenesskonzept für unsere Veranstaltungen zu entwickeln. Wir haben aber für die Awareness-Teams externe Menschen angesprochen, weil diese Form der Arbeit nicht der Kern unserer politischen Praxis ist. Wir sind alle Feminist*innen, jedoch nicht per se Expert*innen was Awareness angeht. Es wäre also ein Fehlschluss davon auszugehen, dass wir als Gruppe Awareness-Arbeit auf anderen Veranstaltungen leisten können.


Eine kleine Einführung in Awareness…

Auf den Veranstaltungen vom Frauen*streik kommen viele Menschen mit unterschiedlichen Vorgeschichten, Fragen und Bedürfnissen zusammen. Wir möchten euch dazu einladen, ein Klima zu schaffen, in dem sich alle Menschen wohl fühlen können und wir…

  • diskriminierendes Verhalten thematisieren können
  • Fachwörter und Szene-Codes erklärt werden, um alle in Gespräche einzubeziehen
  • ob alle in ihren Bedürfnissen gesehen werden
  • selbstverantwortlich mit unseren Grenzen und den Grenzen anderer umgehen
  • beginnen unsere Privilegien zu reflektieren und einen sensibilisierten Umgang zu üben.

Obwohl diese Art des Umgangs vor allem von jeder*jedem Einzelnen abhängt, kann es in gewissen Situationen sinnvoll sein, dass bestimmte Personen explizit Unterstützung leisten und Verantwortung übernehmen. Aus diesem Grunde wird während des ganzen Tages ein Awareness-Team präsent sein, welches bei Bedarf ansprechbar ist. Sollte es zu Übergriffen jeglicher Art kommen, stehen euch die Menschen mit den pinken Warnwesten unterstützend zur Seite.

Auf unseren Veranstaltungen soll niemand diskriminierendem Verhalten schutzlos ausgesetzt sein. Es kommt leider oft vor, dass Menschen diskriminierendem Verhalten ausgesetzt sind. Dagegen möchten wir etwas tun! Wir bitten euch, mit uns gemeinsam eine Atmosphäre zu schaffen, in der alle sich möglichst gut fühlen können.

Was verbirgt sich hinter „Awareness“?

Es gibt keine richtige Übersetzung für den Begriff „Awareness“ ins Deutsche, am ehesten könnte man es mit „Achtsamkeit“ übersetzen. Awareness meint also sich bewusst sein, sich informieren und für gewisse Problematiken sensibilisiert sein.

„Awareness“ beschreibt ein Konzept, welches sich mit Problematiken im Zusammenhang mit Missachtung von körperlichen, psychischen und persönlichen Grenzen bis hin zu Gewalt in öffentlichen Räumen auseinandersetzt. Dabei wird sexistischem, rassistischem, homophoben, transphoben, ableistischen (behindertenfeindlich) oder vergleichbarem übergriffigem Verhalten entgegentreten. Durch Awareness soll ein Weg gefunden werden, um Diskriminierungen und grenzüberschreitendes Verhalten zu benennen und diesem Verhalten aktiv entgegenzutreten. Personen, die sich davon betroffen sehen, sollen damit nicht allein gelassen werden, sondern werden unterstützt und begleitet.

„Awareness“ beinhaltet ein Bewusstsein für die herrschenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu erlangen: Sexistische Verhaltensweisen und Vorfälle sexualisierter Gewalt beispielsweisesind keine individuellen Einzelfälle, sondern Ausdruck eines sexistischen Gesellschaftssystems. Es geht also auch darum, die strukturellen Komponenten von diskriminierendem und gewaltvollen Denk- und Verhaltensweisen zu thematisieren. Denn die gesellschaftlichen Verhältnisse tragen maßgeblich dazu bei, dass es zu zwischenmenschlischer Gewalt kommt.

Zur Awareness gehört auch, selbstverantwortlich mit den eigenen Grenzen und den Grenzen anderer umzugehen. Passt auf euch auf und achtet auf die Anderen um euch! Wenn ihr euch nicht gut fühlt, holt euch Hilfe! Redet mit anderen darüber!

Die Definition, was eine Grenzverletzung ist, liegt bei der Person, deren Grenze verletzt wurde. Persönliche Grenzen, egal wo sie liegen, sind immer okay! Im Umgang mit konkreten Situationen ist es uns zunächst wichtig, auf die Bedürfnisse der betroffenen Personen einzugehen, und nicht die der verursachenden in den Mittelpunkt zu stellen.

Grundpfeiler von Awareness-Arbeit

Öffentliche Thematisierung

  • Ziel: Aufmerksamkeit und Sensibilisierung für übergriffiges Verhalten, Grenzüberschreitungen und jegliche Formen von Diskriminierung schaffen
  • Prävention

Unterstützung von Betroffenen

  • nach grenzüberschreitendem und/oder diskriminierenden Verhalten
  • Rassistisches, antisemitisches, sexistisches und/oder homo-/transphobes Verhalten kann von verbalen Beschimpfungen bis zu physischen Übergriffen reichen. Wenn sich eine Person auf Grund ihrer sexuellen Identität, Hautfarbe und/oder Herkunft etc. von einer anderen Person angegriffen und diskriminiert fühlt, solltet ihr die betroffene Person unterstützen und euch ihr gegenüber parteilich verhalten.

Selbstfürsorge

  • sich selbst in der Situation wahrnehmen, in die man unterstützend eingreift
  • eigene Bedürfnisse wahrnehmen und versorgen
  • eigene Positionen gegenüber der unterstützungssuchenden Person erkennen
  • eigene Grenzen wahrnehmen und achten

Wichtige Begriffe für Awareness-Arbeit

Grenzverletzung

Maßgebend bei der Bewertung eines Verhaltens als grenzverletzend sind nicht nur objektive Faktoren, sondern ebenso das jeweils subjektive Erleben des betroffenen Individuums. Grenzüberschreitung sind nie ganz zu vermeiden und in der Regel nicht vorsätzlich. Zufällige und unbeabsichtigte Grenzverletzungen sind im alltäglichen Miteinander korrigierbar, wenn die grenzverletzende Person dem Gegenüber mit einer grundlegend respektvollen Haltung begegnet. Wenn die Person ihres grenzverletzenden Verhaltens bewusst gemacht wird (durch Aussage der*des Betroffenen oder Dritte), zeigt sich eine solche Haltung durch Einsicht, eine Entschuldigung bzw. den Versuch derartige Grenzverletzungen in Zukunft zu vermeiden.

Übergriffe

Übergriffe passieren dem entgegen nicht aus Versehen. Sicherlich sind nicht alle übergriffigen Handlungen im Detail geplant, doch entwickelt sich solch ein Verhalten nur, wenn Menschen sich über gesellschaftliche/kulturelle Normen, institutionelle Regeln, den Widerstand der Betroffenen und/oder fachliche Standards hinwegsetzen.

Definitionsmacht

Unter Definitionsmacht versteht man das Konzept, dass – auf Grund von individuell verschieden erlebter und wahrgenommener Gewalt – nur von der betroffenen Person definiert werden kann, wann Gewalt anfängt, Grenzen überschritten werden und was als Gewalt wahrgenommen wird.

Somit sollte auch das Benennen von Gewalt/einer Grenzüberschreitung durch die betroffene Person unter keinen Umständen in Frage gestellt werden. Unabhängig davon, wie der Übergriff aussah oder wie er von außen vielleicht wahrgenommen wurde: Wenn die betroffene Person es als Gewalt/Übergriff bezeichnet, ist dies zu respektieren; Nur sie*er kann den Grad der Verletzung benennen. Der betroffenen Person sollte auf keinen Fall durch z.B. Fragen nach Details des Übergriffs, ständiger Bitte um erneute Schilderung o.Ä. die Wahrnehmungsfähigkeit abgesprochen werden.

Um die Selbstbestimmung, das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und die eigene Handlungsfähigkeit nach einem Übergriff (Selbstermächtigung) wieder zu stärken, ist es darüber hinaus wichtig, sich bei Awareness-Arbeit aktiv auf die Seite der betroffenen Person zu stellen und sich mit ihr*ihm zu solidarisieren.

In dem Konzept geht es darum, das Erleben und die Bedürfnisse der betroffenen Person anzuerkennen und nicht darum, die gewaltausübende Person zu bestrafen.

Diskriminierung

„Unter „Diskriminierung“ verstehe ich […] „die Verwendung von kategorialen, das heißt vermeintlich eindeutigen und trennscharfen Unterscheidungen zur Herstellung, Begründung und Rechtfertigung von Ungleichbehandlung mit der Folge gesellschaftlicher Benachteiligungen […]. Den Diskriminierten wird der Status des gleichwertigen und gleichberechtigten Gesellschaftsmitglieds bestritten; ihre faktische Benachteiligung wird entsprechend nicht als ungerecht bewertet, sondern als unvermeidbares Ergebnis ihrer Andersartigkeit betrachtet.“ […] Damit [produziert] Diskriminierung gleichzeitig strukturelle Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse.“

Scherr, Albert (2016): „Diskriminierung/Antidiskriminierung – Begriffe und Grundlagen“. Aus Politik und Zeitgeschichte 9, 3-10.